Helfer im Frankreich von 1940 – die Geschichte von Varian Fry und weiteren mutigen Menschen
In ihrem Roman Mit dem letzten Schiff erzählt Eveline Hasler die Geschichte von Varian Fry, welcher im Zweiten Weltkrieg aus den USA nach Frankreich entsandt wird, um vorwiegend Künstlern und Intellektuellen zur Flucht nach Amerika zu verhelfen. Ausgestattet mit Geld und einer Liste von rund 200 Namen, ermöglicht er mit seiner Arbeit schlussendlich über 2’000 Menschen die Flucht aus Vichy-Frankreich und Nazi-Europa.
Ausgestattet mit dreitausend Dollar und der Namensliste von zweihundert Menschen, die er retten sollte, doch ohne Vorstellung, wie das praktisch zu bewerkstelligen sei, erreichte Varian Fry am 16. August 1940 Marseille.
Der Roman fixiert sich jedoch nicht nur auf Varian Fry. Im Mittelpunkt stehen insbesondere zwei jugendliche Flüchtlinge aus Deutschland sowie zwei Helferinnen des Schweizerischen Roten Kreuzes, welche in einem Kinderheim bei Toulouse arbeiten. So bewegten mich persönlich die Schicksale der Kinder und Helferinnen mehr als jenes der teils komplizierten Künstler.
Liest man die Zeitungen der heutigen Zeit, so sind die einzelnen Schicksale des Buches aktueller denn je. So sah ich vergangenen Sonntag in einem Bericht über die Verhältnisse in Aleppo und Syrien allgemein in der NZZ am Sonntag (zu) viele Parallelen. Um nur eines von vielen Beispielen zu nennen.
Varian Fry – der Helfer der Künstler
Nach der Besetzung von Frankreich durch Nazi-Deutschland wurde in den USA die Organisation Emergency Rescue Committee (ECS) gegründet. Diese hatte zum Ziel, in erster Linie Intellektuellen und Künstlern, welche nach Frankreich geflohen waren, die Ausreise in die USA zu ermöglichen. Die US-Regierung beschloss im Juni 1940, den von der Verfolgung Bedrohten freie Einreise zu gewähren und erteilte 200 Visa vor allem für Intellektuelle.
Die Organisation entsandte Varian Fry nach Marseille, wo viele der Flüchtlinge gestrandet waren. An der Küste ging es schlicht nicht mehr weiter. Nebst den finanziellen Mitteln hatte er eine Liste mit 200 Namen, welchen er zur Reise von Frankreich in die USA verhelfen sollte. Es wurde in der Folge jedoch eine weit grössere Aktion.
Sein erster Mitarbeiter, der kluge Albert Hirschmann, riet ihm zu Geduld: „Der Exodus der Flüchtlinge von Paris hierher ist noch im Gange. Pass auf, es kommen nicht zweihundert, sondern hunderttausend! Marseille, heisst es, ist die Endstation jeder Flucht.“
Sein Engagement sprach sich herum und schlussendlich verhalf er über 2’000 Menschen zur Flucht nach Amerika. Meist erfolgte diese über die Pyrenäen nach Portugal und von dort aus weiter über den Atlantik in die USA. Unter den Geretteten waren Menschen wie Marc Chagall, Max Ernst oder auch Heinrich und Golo Mann, der ältere Bruder sowie der Sohn des Literaturnobelpreisträgers Thomas Mann.
Varian Fry hatte in Marseille und Vichy-Frankreich einen schweren Stand. Selbst von der amerikanischen Botschaft durfte er keine Unterstützung erwarten und seine Arbeit bewegte sich ganz stark im Illegalen, verhalf er doch von Nazi-Deutschland verfolgten Personen zur Flucht. So wurde Varian Fry zwischenzeitlich inhaftiert und im August 1941 definitiv aus Frankreich ausgewiesen.
Als Fry sich erhob, bat er um die Erlaubnis, noch eine Frage zu stellen. „Sagen Sie mir offen, Monsieur du Porzic, warum Sie mich so hatnäckig bekämpfen?“
Der Chef der Marseiller Polizei zögerte nicht mit der Antwort. „Weil Sie Juden und Nazigegner geschützt haben.“
Zurück in den USA verfiel er mehr und mehr in sich selbst. Ohne Unterstützung der Regierung versuchte er weiterhin, sein möglichstes für die Menschen in Europa zu tun. Für seine Taten während etwas mehr als einem Jahr in Marseille erhielt er erst im Jahre 1994 die verdiente Anerkennung. Varian Fry wurde als erster und einziger US-Bürger unter die Gerechten unter den Völkern in Israels Holocaust-Mahnmal Yad Vashem aufgenommen. Seit Januar 1998 ist er desweitern Ehrenbürger des Staates Israel und seit Dezember 1997 ist eine Strasse im neu angelegten zentralen Potsdamer-Platz-Areal in Berlin nach ihm benannt.
Fry wurde mehr und mehr zu einer ruhelosen Seele. Er ging durch die reinigenden Schleusen der Psychoanalyse, von der er sich erhoffte, ein ausgeglichener Mensch zu werden, ein normaler Amerikaner eben, der Baseball spielt und nicht lateinische Kreuzworträtsel löst.
Varian Fry konnte die grosse Hilfe natürlich nicht selbst bewältigen. Er hatte viele Helfer, welche den Weg aus Deutschland oder Österreich nach Marseille gefunden hatten. Menschen, die zuvor selbst auf der Flucht waren und später teils selbst in die USA reisten – dank der Hilfe von Varian Fry.
Justus Rosenbaum und Fred Kamlet – zwei Freunde auf der Flucht
Einer dieser Helfer war Justus Rosenbaum. An dessen Beispiel wird im Roman von Eveline Hasler sehr gut sichtbar, wie sich die Flüchtlinge anzupassen wussten. Und dies auch tun mussten, um schlichtweg überleben zu können. So nannte sich Justus zuerst Charlie und später in Marseille Gussie. Namensänderungen, wie sie viele Vertriebene vornahmen.
Justus Rosenbaum ist mit seinem Freund, Fred Kamlet, auf der Flucht aus Deutschland in Richtung französische Westküste. Gemeinsam unterhalten sie auf der Strasse die Passanten, um ein wenig Geld zu verdienen. Die sogenannten Danzig Boys treffen so auf Miriam. Gemeinsam finden sie eine Unterkunft im Kinderheim La Hille bei Toulouse und fühlen sich dort vermeintlich sicher.
Die beiden Jungen auf den schwarzen alten Fahrrädern hiessen Justus Rosenbaum und Fred Kamlet. Sie waren nun den dritten Tag unterwegs und rechneten damit, noch viele weitere Tage auf der Flucht zu sein.
Doch Justus ist zu alt. Sobald die Kinder ein gewisses Alter erreichen, werden sie von der Polizei abgeholt und in ein Lager abgeschoben. Was das bedeuten konnte, wissen wir heute nur zu gut. Also bleibt Fred in La Hille und Justus zieht mit Miriam weiter nach Marseille, wo sie in der Folge beide für Varian Fry arbeiten werden.
Die beiden Freunde sind für mich das Sinnbild, wie sich in dieser schwierigen Zeit einzelne Schicksale in sehr kurzer Zeit mehrmals ändern konnten. Ihre Familien mussten sie bereits zurücklassen. Sie hatten nur sich selbst und schworen sich, gemeinsam weg zu kommen. Das Schicksal wollte es anders und trennte die beiden Freunde. Es gibt aber auch in diesen dunklen Kriegsjahren Momente des Lichts, denn die beiden werden sich wiedersehen.
Rösy Näf und Elsbeth Kasser – die Heldinnen der Kinder
Im Kinderheim La Hille begegnen wir im Buch erstmals den zwei grössten Heldinnen des Buches. Aus meiner Sicht zumindest. Die beiden Schweizerinnen Rösy Näf und Elsbeth Kasser arbeiten für das Schweizerische Rote Kreuz und versuchen das Leben der vom Krieg geplagten Franzosen etwas besser zu gestalten.
Auf ihre Frage, wohin die Kinder gebracht würden, schweigt der Offizier.
Rösy Näf leitet das Kinderheim La Hille bei Toulouse und ist verantwortlich für die dort einquartierten Kinder. Als im weiteren Zuspitzen des Krieges die älteren der Kinder von der Polizei in ein Übergangslager abtransportiert werden, begibt sich Rösy Näf höchstpersönlich dorthin, um „ihre“ Kinder zurück zu holen. Die Züge stehen schon bereit, als sie eintrifft.
Etwas tun für die Ärmsten der Armen. Nun ist sie dreissig Jahre alt, noch fühlt sie Kraft und Energie.
Elsbeth Kasser arbeitet ebenfalls im Kinderheim, wechselt später jedoch ins Lager Gurs. Dort schafft sie es, den Insassen den trüben Alltag ein wenig erträglicher zu gestalten. Es sind einzelne Schicksale wie jenes von Fritz, welche einen berühren. Elsbeth Kasser schafft es, für den Waisenjungen einen Wechsel vom Lager Gurs zu Rösy Näf ins Kinderheim La Hille zu ermöglichen. In dieser Zeit eigentlich undenkbar. Das Glück sollte dann auch nicht von langer Dauer sein.
„Niemand kommt freiwillig hierher, Mademoiselle.“
„Ich schon.“ Sie versuchte nochmals ein Lächeln.
„Wir haben aber keine Betten“, wehrte er mit einer Handbewegung ab.
„Das macht nichts. Zeigen Sie mir eine ruhige Ecke, wo ich meine wenigen Sachen hinstellen kann. Ich schlafe auch auf einem Strohsack.“
Jetzt bemerkte er ihren durchdringenden Blick: Augen von scharfem Glasblau.
Viele Schicksale und ein Fazit
Es sind noch viele weitere Personen, welche für ihre guten Taten in den Zeiten des Zweiten Weltkrieges, zu erwähnen wären. Im Buch finden denn auch einige davon Unterschlupf. Trotzdem sind es gerade diese Einzelschicksale wie jene von Justus, Fred oder Fritz, welche einem nahe gehen. Es sind die Rettungen oder eben auch Verluste von einzelnen Personen, welche einen beschäftigen.
Stunden, in denen man Atem holte, in denen ein Funken Hoffnung glühte, dass der Schrecken doch ein Ende nehmen könnte.
Mir sind vom Buch insbesondere die Geschichten der beiden Freunde Justus Rosenbaum und Fred Kamlet sowie der Helferinnen Rösy Näf und Elsbeth Kasser geblieben. Die beiden Freunde, weil sie alles hinter sich lassen mussten. Sie haben das ganze Leben noch vor sich, wissen aber trotzdem nicht, wieviel ihnen davon noch bleiben wird. Die beiden Frauen des Roten Kreuzes bewundere ich einfach, weil sie es sich auch einfach daheim hätten gemütlich machen können. Aber ihnen waren die Schicksale der fremden Menschen nicht egal. Sie reisten ins Krisengebiet und halfen – mit Erfolg.
„Ohne den Mann, der Varian Fry hiess, wären wir alle in Marseille untergegangen – und Tausende mit uns“, schrieb die Wienerin Hertha Pauli aus New York und wiederholte es in ihrem Erinnerungsbuch Der Riss der Zeit geht durch mein Herz.
Die Geschichte von Varian Fry und seiner Hilfe ist mir etwas ferner und undurchsichtiger, auch weil sie ein wenig abstrakter ist. Vielleicht auch, weil sich einige der Verfolgten anfangs gar nicht helfen lassen wollten. Und trotzdem setzte sich Varian Fry für sie ein. Was der „amerikanische Schindler“, wie er auch genannt wird, im Endeffekt wirklich leistete, wurde mir erst gegen Ende des Buches bewusst.
Nun, wer gerne ein wenig in die europäische Vergangenheit zurück schaut, ist bei diesem Roman genau richtig. Das Buch ist packend geschrieben, man lebt sich schnell in die Hauptpersonen ein und es fesselt einen nach wenigen Seiten. Man darf jedoch nie ein Happy End erwarten. Mit dem letzten Schiff erzählt Schicksale und Tragödien aus dem Zweiten Weltkrieg. Da gibt es keine Gewinner. In einem Krieg wird es immer nur Verlierer geben.
Eveline Hasler – die Autorin guter historischer Bücher
Eveline Hasler gehört für mich zu den besten Autorinnen, die die Schweiz je hervorgebracht hat. Ihre Bücher lesen sich flüssig, sind packend und behandeln häufig historische Themen der Geschichte. Mein grosser Favorit ist denn auch Anna Göldin – Letzte Hexe aus dem Jahre 1982.
Anna Göldi wurde 1782 in Glarus wegen Hexerei zum Tode durch das Schwert verurteilt. Es war der letzte Prozess wegen Hexerei in der Schweiz. Dies obwohl die wahren Umstände, die zur Verurteilung von Anna Göldi führten, lange im Unklaren waren und die Hexerei wohl nur vorgeschoben wurde. Im Gerichtsprozess gab Anna Göldi unter Folter zu, die Kräfte des Teufels zu nutzen.
Diese Geschichte wird in Eveline Haslers Roman von 1982 packend umschrieben. Ich habe das Buch erstmals während meiner Schulzeit für eine Buchrezension im Deutschunterricht gelesen – und war schon damals begeistert von der Autorin und ihren Büchern.
Eveine Hasler wurde 1933 in Glarus geboren, studierte Psychologie und Geschichte in Fribourg und Paris, ehe sie in ihrem Wohnort St. Gallen einige Zeit als Lehrerin tätig war. In den Sechziger- und Siebzigerjahre verfasste sie Kinder- und Jugendbücher, zunehmend aber auch Lyrik und erzählerische Werke für Erwachsene. Heute ist sie vor allem bekannt für ihre historischen Romane aus der Schweizer Geschichte.
Die Buchliste der Werke von Eveline Hasler ist lange. So kann ich nebst Anna Göldin – Letzte Hexe einige weitere Werke sehr empfehlen. Allen voran Die Wachsflügelfrau, Ibicaba, Die Vogelmacherin sowie Tells Tochter. Und natürlich Mit dem letzten Schiff.
Dieser Beitrag erschien am 20. Dezember 2016 meinem Blog querdurchdenalltag.com.
Kurzbeschreibung
In ihrem Roman Mit dem letzten Schiff erzählt Eveline Hasler die Geschichte von Varian Fry, welcher im Zweiten Weltkrieg aus den USA nach Frankreich entsandt wird, um vorwiegend Künstlern und Intellektuellen zur Flucht nach Amerika zu verhelfen. Ausgestattet mit Geld und einer Liste von rund 200 Namen, ermöglicht er mit seiner Arbeit schlussendlich über 2’000 Menschen die Flucht aus Vichy-Frankreich und Nazi-Europa.
Buchtitel: Mit dem letzten Schiff
Erscheinungsdatum: 2013
Autor: Eveline Hasler
Verlag: dtv
Haupthandlungsort: Europa, Frankreich, Provence-Alpes-Côte, Marseille, weiter Schweiz und Deutschland
Genre: Historischer Roman